Philosophie

Gerburg Treusch-Dieter † | Berlin, Wien
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Fotos S.K.B.

 

Gerburg hat sich gern und oft gestritten, sie hat bewusst die dunklen, unklaren Stellen aufgesucht, wie zum Beispiel die "Spindel der Notwendigkeit" in Platos zehntem Buch, der Politeia. Spindel hat viele Bedeutungen, das hat sie gereizt daran: Mittelsäule der Wendeltreppe, Hauptachse gegliederter Blätter, allgemein: ein zentral bewegendes Mittelteil. Überhaupt war die Entschlüsselung, ja vielfach auch die Umdeutung von Mythen und Märchen ihr lustvolles Untersuchungsgeschäft. Man könnte sie eine Patriotin des wilden Denkens nennen. Aufbrechen eingefrorener Texte, deren Wahrheitsgehalt sie immer auf der Unterseite vermutete. Die Lust, Philosophie zu inszenieren, damit viele Menschen sie besser verstehen, hat sie bis zum Ende nicht im Stich gelassen.

Oskar Negt, Nachruf im Freitag, 1.12. 2006

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© Foto S.K.B.

Liebe Gerburg, dies halte ich für eins der bedeutsamsten Bücher - nicht zuletzt für das WEB-WERK, Dein frühestes und grundlegendes Buch: das Buch zum Spinnen und zum „Spinnen als Erkenntnisweise“!

Gerburg Treusch-Dieter
Wie den Frauen der Faden aus der Hand genommen wurde.
Die Spindel der Notwendigkeit.
Verlag Ästhetik und Kommunikation, Berlin 1983

"Einführung
Dieser Text wird eine Denkverbindung versuchen zwischen der Spindel als Spekulationsobjekt bei Platon im „Staat“ (...) und der Bedeutung, die Engels in „Die Lage der arbeitenden Klassen in England“ (Einleitung) der Erfindung der „Spinning Jenny“ zumisst.
Was kann eine solche Denkverbindung mit der Frage nach der weiblichen Produktivität zu tun haben? Ausgehend von der Konstruktion Platons gilt, dass die weibliche Produktivität als gesellschaftliche Notwendigkeit Schoß und Spindel, Zeugung und Erzeugung zugleich einschließt. Zugelassen ist diese Produktivität abzüglich der Verfügung über sich selbst.
...
Die weibliche Produktivität ist an dieser Entwicklung – wie kann es anders sein? – ebenso beteiligt, wie die männliche. Und doch scheint sie in ihr nicht vorzukommen. Die reale Geschichte scheint ohne sie auszukommen. Umso häufiger jedoch begegnet man ihr in den von dieser Geschichte hinterlassenen Geschichten: in den Mythen, Märchen, Sagen. Die Spinnerin ist eine Märchenfigur par excellence. Als ob es sie nie wirklich gegeben hätte.
...
Geschichtliches Faktum ist, dass die Spindel bis zu Erfindung der Spinnmaschine in der Hand der Frau verbleibt. Das Spinnen kann als das Paradigma weiblicher Produktivität gelten.
...
Sie (die Spindel) ist das früheste mythologische Bild des Kosmos, das sich in der Platonischen Spindel der Notwendigkeit erhält... Die Gräber des Altertums sind voll von Spinnwirteln, die keine andere Bedeutung gehabt haben können, als die Toten mit „Kreisbewegung“, mit Energie zu versorgen. Ihnen für die Wiedergeburt eine kleine Spindel der Notwendigkeit , pars pro toto, mit ins Grab zu geben. Dass dieser in der Form der Spindel vorgestellte Kosmos weiblich war, versteht sich.
..."

abb
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Fotos S.K.B.

 

Biografie Gerburg Treusch-Dieter, 1939-2006, Professorin für Soziologie und Kulturwissenschaften. Lehrte an der Freien Universität Berlin, der Universität der Künste Berlin, an den Universitäten in Freiburg, Innsbruck und Wien sowie an der Akademie der bildenden Künste Wien. Zuletzt erschien von ihr Die Heilige Hochzeit - Studien zur Totenbraut. Nach ihrer Ausbildung an der Max-Reinhardt-Schule in Berlin war sie von 1960 bis 1970 als Schauspielerin tätig. Anschließend studierte sie Soziologie, Psychologie und Literaturwissenschaft an der Universität Hannover und promovierte bei Oscar Negt. Habilitationsschrift in Soziologie an der FU Berlin. Sie arbeitete thematisch im Spannungsfeld Antike, Moderne, Postmoderne - vor allem zur Theorie und Diskursgeschichte der Geschlechterdifferenz von Aristoteles bis heute, die im Zuge der modernen Gen-und Reproduktionstechnologie nichts weniger als die „Absperrung der Frau vom Gebären“ zum Ziel bzw. zur Folge hat.

Schriften (Auswahl) Die Spindel der Notwendigkeit. Zur Geschichte eines Paradigmas weiblicher Produktivität, Hannover 1985 (Dissertation) • Von der sexuellen Rebellion zur Gen- und Produktionstechnologie, Tübingen 1990 • Mitherausgeberin der deutschen Wochenzeitung Freitag und der Zeitschrift Ästhetik und Kommunikation • Gemeinsam mit Ronald Düker und Claudia Gehrke, Hrsg., konkursbuch „Auto“, Tübingen 2004, 256 S., zahlreiche Abbildungen • Gemeinsam mit Alexander Meschnig und Mathias Stuhr, Hrsg., Arbeit als Lebensstil, Edition Suhrkamp, Frankfurt /M, 2003, 212 S. • Gemeinsam mit Michael Jäger, Andrea Rödig, Hrsg, Gott und die Kathastrophen. Edition Freitag, Berlin 2003, 225 S. • Die Heilige Hochzeit. Studien zur Totenbraut. Centaurus, Pfaffenweiler, 2001, 2. Aufl., 310 S.• Gemeinsam mit Michael Jäger und Andrea Koschwitz, Hrsg., Recht auf Freiheit - Zukunft der Nichtarbeit. Edition Freitag, Berlin 2001, 180 S. • Del Lagrace, Volcano, Sublime Mutations. Nachwort Gerburg Treusch-Dieter, Konkursbuch Verlag, Tübingen 2000• Gemeinsam mit Dietmar Kamper und Bernd Ternes, Hrsg, Schuld. Konkursbuchverlag, Tübingen 1999 • Von der sexuellen Rebellion zur Gen- und Reproduktionstechnologie. Konkursbuchverlag Tübingen 1990 • Wie den Frauen der Faden aus der Hand genommen wurde. Die Spindel der Notwendigkeit. Verlag Ästhetik und Kommunikation, Berlin 1984

Hinweis Ausgewählte Fotografien
Gerburg Treusch-Dieters in Stanford (USA) sind hier zu sehen.